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Titelthema
                           „Arbeitszeitverlängerung ist ein


                           grundlegend falscher Ansatz“



                           INTERVIEW  Für Thomas Müller müssen Familie und Beruf besser vereinbar sein

                           Um dem Fachkräftemangel etwa   Betriebe ohne Tarifvertrag   Lösungsansatz  wäre  ein  flächen-
                           in  der  Pflege  entgegenzuwirken,   größere Probleme als diejenigen   deckender Einsatz  von multipro-
                           müssen  die  Arbeitsbedingungen   mit. Was muss in Sachen guter   fessionellen  Teams aus Pädago-
                           grundsätzlich verbessert werden,   Arbeit passieren, um Fachkräfte   gen und Sozialarbeitern.
                           erklärt Thomas Müller, Bezirksge-  in ihrem Beruf zu halten?
                           schäftsführer  der  ver.di  Region   Da treffen Sie den Nagel auf den   Viele Frauen sind in Mini- oder
                           Saar Trier im Interview. Die Fragen   Kopf. Um beispielsweise in sozia-  Teilzeitjobs beschäftigt. Viele von
                           stellten  Simone  Hien  und  Carina   len Berufen dem großen Personal-  ihnen würden gerne mehr
                           Webel,  Leiterin  der  Abteilung   mangel entgegenzuwirken, sind   arbeiten, an welchen Stellschrau-
                           Wirtschafts- und Umweltpolitik.   substanzielle Verbesserungen der   ben muss gedreht werden, um
            Thomas                                       Arbeitsbedingungen  nötig.  In  den   Frauen die Ausweitung der
            Müller         Von Arbeitgeberseite heißt es oft,   Bereichen  Alten- und Kranken-  Arbeitszeit zu ermöglichen?
            ist Bezirksge-  ein Ansatz, den Fachkräftemangel   pflege können sich immerhin min-  Als erstes müssen die Arbeitszei-
            schäftsführer   zu lösen, sei die 42-Stunden-Wo-  destens  300.000  Fachkräfte,  die   ten so gestaltet sein, dass Beruf
            des ver.di-    che oder das Renteneintrittsalter   ihre  Arbeitszeit  reduziert  haben   und Familie besser vereinbart wer-
            Bezirks        auf 70 zu erhöhen. Was sagen Sie   oder ganz aus dem Beruf ausge-  den können. Ich bin der Meinung,
            Region Saar    als Gewerkschaftsvertreter dazu?  stiegen sind, eine Rückkehr  vor-  dass kein Arbeitnehmer gerne im
            Trier. Der     Nach meiner Überzeugung ist die-  stellen. Nötig  wären dazu unter   Minijob arbeitet. Es gibt zu wenig
            58-Jährige ist   ser  Ansatz grundlegend falsch.   anderem  deutlich verbesserte,   passende  Angebote für die Kin-
            seit 30 Jahren   Eine  pauschale Arbeitszeitverlän-  verbindliche  Personalschlüssel  derbetreuung und die  Arbeit ist
            als Gewerk-    gerung gefährdet sogar  Arbeits-  oder ein verbesserter Arbeits- und   häufig  nicht altersgerecht gestal-
            schaftssekre-  plätze,  verschärft die soziale Un-  Gesundheitsschutz. Zudem könn-  tet. An beiden Enden müssen der
            tär tätig.     gleichheit, gefährdet die Gesund-  ten Teilzeitbeschäftigte, vor  allem   Gesetzgeber, aber auch die Arbeit-
                           heit und ist familien- und partner-  viele Frauen aus Minijobs, ihre   geber der veränderten Arbeitswelt
                           schaftsfeindlich. Zudem verhindert   Stunden aufstocken, wenn die Be-  Rechnung tragen, um mit intelli-
                           sie das Ziel des lebenslangen Ler-  dingungen für sie stimmen  wür-  genten Arbeitszeitmodellen  die
                           nens, verhindert  ehrenamtliches   den.  Weitere Fachkräfte könnten   Rückkehr in den Beruf zu erleich-
                           Engagement,  führt  zum  Rollback   durch Qualifizierung und Weiterbil-  tern.
                           in der Geschlechtergerechtigkeit   dungsangebote  aktiviert werden.
                           und  trägt  nicht  zu  humanen  Ar-  Gegen Personalengpässe hilft es   Als ein weiterer Lösungsansatz,
                           beitsbedingungen bei.  Wir brau-  aber auch, die Gesunderhaltung   den Fachkräftemangel zu lösen,
                           chen stattdessen eine Diskussion   der Beschäftigten zu fördern.   gelten Arbeitskräfte aus dem
                           über die  Verteilung der täglichen                         Ausland. Hier aber steht Deutsch-
                           Arbeitszeit, die sich auch nach den   6,6 Prozent der Jugendlichen im   land im Wettbewerb mit anderen
                           Bedürfnissen der Beschäftigten   Saarland verlassen die Schule   Ländern. Wie können wir den
                           richtet                       ohne Hauptschulabschluss –   Zuzug für Fachkräfte erleichtern?
                                                         potenzielle Fachkräfte, die dem   Meiner Meinung nach ist die An-
                           Das Thema Fachkräftemangel    Arbeitsmarkt verloren gehen. Wie   werbung aus dem  Ausland nicht
                           hängt ja auch eng mit dem     sollte die Politik hier gegensteu-  die Lösung. Wir sind uns mit den
                           Stichwort Arbeitsbedingungen   ern?                        Gewerkschaften  in  Europa  einig,
                           zusammen. So haben etwa       Jeder Jugendliche, der eine Schule   dass die Migration, etwa von Pfle-
                                                                      ohne  einen Ab-  gekräften, vielleicht einen kurzfris-
                                                                      schluss verlässt,   tigen betrieblichen Personalbedarf
                                                                      ist einer zu  viel.   löst, jedoch keinen Beitrag dar-
                                                                      Hier  müssen  die   stellt, um den Personalbedarf in
                                                                      Arbeitsbedin-   der Pflege in Deutschland auszu-
                                                                      gungen     und  gleichen. Vielmehr  verschlechtert
                                                                                 der
                                                                                      sich die Pflegesituation in den Her-
                                                                      Lehrkräfte
              Foto: Adobe Stock/michaelheim                           nen und Erzieher   Deutschland bedeutet die Be-
                                                                           Erzieherin-
                                                                                      kunftsländern der Migrantinnen. In
                                                                      der
                                                                                      schäftigung  von Migranten nicht,
                                                                      verbessert wer-
                                                                                      dass die Probleme  im  Gesund-
                                                                      den, damit Raum
                                                                                      heitswesen angegangen werden:
                                                                      und Zeit entsteht,
                                                                      um sich entspre-
                                                                                      sene Entlohnung und gute  Ar-
                                                                      chend um die
                                                                                      beitsbedingungen ist es nicht
                                                                      Schülerinnen    Ohne mehr Personal, angemes-
            Damit weniger Jugendliche  die  Schule  ohne Abschluss verlassen,  und Schüler zu   möglich, dem Fachkräftemangel
            müssen die Arbeitsbedingungen von Lehrkräften verbessert werden. kümmern.  Ein  zu begegnen.
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