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Titelthema
        Warum Sorgearbeit dringend


        ein neues Leitbild braucht



        GLEICHSTELLUNG  Bessere gesetzliche Rahmenbedingungen sind unabdingbar

        Die sogenannte Sorge- (oder   dass Frauen kraft ihrer „natürli-  Arbeit gleich Gute Arbeit im Sinne
        Care-) arbeit ist eine notwendige   chen Fähigkeiten“ besonders für   des DGB-Leitbildes Gute  Arbeit.
        Basis des Wirtschaftssystems,   diese  Arbeiten geeignet seien.   Die Realität sieht mit niedrigen
        wird aber als solche nicht   Nicht zuletzt ist dies mit ein Grund   Löhnen, fehlender sozialer  Absi-
        anerkannt. Nur wenn eigene   dafür, dass Sorgearbeit im Er-  cherung und  wenig ausgepräg-
        Grundbedürfnisse befriedigt,   werbszusammenhang bis heute   tem  Schutz  jedoch  meist  anders
        Kinder und ältere hilfe- und   deutlich unterbewertet ist. Ent-  aus. Insbesondere im Bereich der
        pflegebedürftige Menschen    sprechend dieser Zuweisung war   Altenpflege  werden  häufig  Mig-
        versorgt sind, und ein gewisses   der „Familienernährer“ jahrelang   rantinnen ins Land geholt, die
        Maß an Selbstfürsorge gewähr-  ein tief verankertes Bild mit all sei-  dann ihrerseits ihren eigenen Fa-
        leistet ist, kann Erwerbsarbeit   nen Auswirkungen. Langsam ver-  milien nicht mehr gerecht werden
        dauerhaft ausgeübt werden.   änderte sich das Leitbild hin in   können.
        Bisher ist diese Arbeit vor allem   Richtung „Zuverdienst“ durch die   Der Zweite Bundesgleichstel-
        zu Lasten der Frauen verteilt.  Frauen, nicht zuletzt aufgrund ih-  lungsbericht  thematisierte  2017
                                     res  steigenden  Bildungsniveaus.   die  Verteilung der Sorgearbeit
        Von Gertrud Schmidt          In  der Weiterentwicklung  wurde   und  forderte  ein  neues  Leitbild.
                                     eine  Vollzeiterwerbstätigkeit  für   Dieses als Basis würde im Idealfall
        Wie sehr bezahlte und unbezahlte   alle als Leitbild formuliert. Bei die-  Sorgearbeit für alle Geschlechter
        Sorgearbeit grundlegend für das   sem Modell ist es politisch gewollt   ohne Nachteile möglich machen.
        Beschäftigungssystem  ist,  wurde   und im Sinne der Gleichstellung   Die Probleme der Aufteilung von
        nicht zuletzt während der Corona-                          Erwerbs- und Sorgearbeit sollten
        Pandemie deutlich. Damals kam   Sorgearbeit ist zu Lasten   nicht allein im Privaten  von den
        der Begriff der Systemrelevanz ins   der Frauen verteilt   Einzelnen bewältigt werden müs-
        Spiel – ob bei Fragen der Kinder-                          sen.  Gesetzliche  Rahmenbedin-
        betreuung zu Hause oder in Kitas   sinnvoll, den Anspruch von Frauen   gungen müssen so ausgestaltet
        beziehungsweise in Kliniken und   auf eine existenzsichernde, unab-  werden, dass eine Kombination   Ob Betreuung
        Pflegeeinrichtungen.  Die  öffentli-  hängige Erwerbsarbeit zu mani-  von Erwerbs- und Sorgearbeit   von Kindern
        chen Sorgesysteme funktionier-  festieren.  Wird es jedoch konse-  möglich wird ohne Überforderung   oder Pflege
        ten  nicht  mehr  ausreichend  und   quent in der Praxis verfolgt, so ig-  und ohne Benachteiligung der   von älteren
        schnell wurde klar, wie selbstver-  noriert dieses Modell, dass Men-  Beteiligten. Praktisch hätte Sorge-  Menschen, ob
        ständlich sie für den normalen Ab-  schen  sich  trotzdem  um  arbeit dann keine negativen Aus-  bezahlt oder
        lauf der  Arbeitswelt sind.  Waren   Care-Arbeit kümmern müssen.   wirkungen  auf Aufstiegschancen,   unbezahlt:
        zuvor Vereinbarkeitsthemen  im   Ein möglicher  Ausweg ist das   auf Einkommen oder auf die Ren-  Sorgearbeit
        betrieblichen  Alltag eher am   Delegieren der Sorgearbeit an   tenhöhe. Bisher wurden entspre-  wird noch
        Rande  Thema, so  wurden sie   Dritte. Diese Lösung liegt nahe, sie   chende gesetzliche Rahmenbe-  immer haupt-
        plötzlich überall diskutiert. Einen   bewegt sich erfahrungsgemäß je-  dingungen  häufig  jedoch  nur   sächlich von
        Augenblick lang glaubte man,   doch oft im Graubereich. Idealer-  halbherzig umgesetzt – wie etwa   Frauen
        diese Bedeutung würde über den   weise wäre auch (bezahlte) Care-  beim Entgelttransparenzgesetz.  geleistet.
        Moment  hinaus  wirksam  –  doch
        aktuell ist der Personalmangel
        überall so ausgeprägt, dass man
        oft nur noch das Notwendigste
        tun kann, um die Bedarfe zu de-
        cken. Längerfristige Verbesserun-
        gen, etwa in den Kitas oder in den
        Pflegeeinrichtungen, müssen da-
        bei erneut zu Lasten der Qualität
        auf  die  lange  Bank  geschoben
        werden.
          Auffallend ist: Sowohl im Privat-
        leben als auch in der bezahlten
        Sorgearbeit liegt die Zuständig-
        keit überwiegend bei den Frauen.
        Care-Arbeit  wird als  Teil des Pri-
        vatlebens gesehen, der quasi na-                                                                    Foto: Adobe Stock/Pololia
        turrechtlich in die Hauptzustän-
        digkeit der Frau im Haushalt zuge-
        wiesen wurde. Damit ist gemeint,

                                                                                         AK-Konkret 4|23 ·  9
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