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Titelthema
Die materielle Gleichstellung
ist noch längst nicht erreicht
BENACHTEILIGUNG Die Sorgearbeit muss gleichmäßiger verteilt werden
Vor rund 65 Jahren, am 1. Juli Prozent entspricht. Von den wie Erziehung/Unterricht (knapp
1958, trat das sogenannte männlichen Beschäftigten 99.400 Personen). Da die Anteils-
Gleichberechtigungsgesetz in sind lediglich 10,5 Prozent in werte von Frauen innerhalb dieser
Deutschland in Kraft. Damit Teilzeit tätig. Bereiche teilweise bei über 70
wurde die Gleichstellung der • Über 34.200 Frauen arbeiten Prozent liegen (siehe Grafik), wird
Frau mit dem Mann rein rechtlich ausschließlich als Minijob- häufig von frauenspezifischen
erreicht. Längst gibt es Frauenbe- berinnen – damit werden Branchen gesprochen. Die Be-
auftragte, -förderung und rund 60 Prozent aller Minijobs schäftigungsschwerpunkte von
-quoten. In Deutschland gibt es im Saarland von Frauen aus- Männern liegen in den saarländi-
kaum noch Stimmen, die Frauen geführt. schen Schlüsselindustrien sowie
nicht selbstverständlich als • Der Anteil von Frauen, die im im Baugewerbe (ca. 69.000 Per-
vollwertige und selbstbestimmte Saarland zu Niedriglöhnen sonen). Die industriellen Branchen
Mitglieder der Gesellschaft arbeiten, ist mit 27,6 Prozent zeichnen sich durch hohe Tarifbin-
ansehen. Rechtlich und moralisch erheblich größer als bei Män- dung, starke Mitbestimmung und
scheint der Wille zur Gleichstel- nern (16 Prozent). einen hohen gewerkschaftlichen
lung da zu sein, die ökonomische • Der sogenannte Gender Pay Organisationsgrad aus. Entspre-
und soziale Gleichstellung ist Gap – also der Unterschied chend sind die Löhne vergleichs-
jedoch noch längst nicht erfolgt. zwischen dem durchschnitt- weise hoch: Die Bruttostundenver-
lichen Stundenlohn von dienste liegen in der saarländi-
Von Jonas Boos Frauen und Männern – liegt schen Kfz-Industrie bei 32,23 Euro.
im Saarland bei 18 Prozent. In Pflege- und Altenheimen wird
Die ökonomische und soziale Be- hingegen mit 20,25 Euro um
nachteiligung von Frauen zeigt Frauen arbeiten deutlich knapp zwölf Euro weniger entlohnt
sich eindrücklich anhand von Sta- öfter in Teilzeit (-37,2 Prozent).
tistiken des Arbeitsmarktes: Infolge der Kombination aus
• Zwar hat die Erwerbsbeteili- Frauen unterbrechen ihr Er- dem voranschreitenden Struktur-
gung von Frauen im Saarland werbsleben häufiger – meist aus wandel in der saarländischen In-
in den letzten Jahrzehnten familiären Gründen –, arbeiten dustrie und konjunkturellen Kri-
deutlich zugenommen (von nach dem Wiedereinstieg oft in sensituationen ist die Industriebe-
Im Bereich rund 35 Prozent im Jahr 1980 Teilzeit oder Minijobs und haben schäftigung an der Saar seit 2008
persönlicher auf 73 Prozent im Jahr 2021), auch daher geringere Chancen auf um über zehn Prozent bezie-
Dienstleistun- sie bleibt aber weiter hinter einen innerbetrieblichen Aufstieg hungsweise knapp 10.100 Arbeits-
gen wie der der Männer zurück (82,1 oder Führungspositionen. Auch plätze zurückgegangen. Parallel
Wäschereien, Prozent). die Berufswahl unterscheidet sich dazu fand ein enormer Beschäfti-
Saunen und • Über 88.000 der weiblichen von der der Männer: Über die gungsaufbau im Dienstleistungs-
Friseursalons Beschäftigten (sozialversi- Hälfte der Frauen arbeitet in den bereich statt. Treiber sind hierbei
arbeiten zu cherungspflichtig) im Saar- fünf Branchen: Gesundheitswe- insbesondere die sozialen Dienste,
über 76 land arbeiten in Teilzeit, was sen, Einzelhandel, Öffentliche Ver- in denen überwiegend Frauen ar-
Prozent Frauen. einer Teilzeitquote von 48,6 waltung, Sozialwesen/Heime so- beiten. Die geschlechtsspezifi-
schen Arbeitsbereiche und -rollen
können unter anderem auf ökono-
mische sowie soziale, kulturelle
und historische Faktoren zurück-
geführt werden. Aus ökonomi-
scher Perspektive gehen aus der
vorherrschenden Art und Weise
der gesellschaftlichen (Re-) Pro-
duktion spezifische Anforderun-
gen an die Menschen einher. Zum
einen braucht es Personengrup-
Foto: Adobe Stock/qunica.com die möglichst effizient und rational
pen im produzierenden Bereich,
handeln und dadurch besonders
geeignet sind, im Konkurrenz-
kampf erfolgreich zu sein und Pro-
fite zu erarbeiten. Um solchen An-
forderungen gerecht zu werden,
müssen eigene Bedürfnisse und
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