Page 16 - AK-Konkret: 5 | 2023 | AK-SPEZIAL „WEITERBILDUNG“

Position
Position
Kindergrundsicherung:

Eine vertane Chance

KINDERARMUT Geplante Reform wird den meisten betroffenen Familien nicht helfen
Nach monatelangem Streit hat die Bundesregierung Ende August ßer Teil in den Aufbau neuer Ver-
Eckpunkte zur Kindergrundsicherung vorgestellt. Doch die Pläne sind waltungsstrukturen. Diese Kinder-
enttäuschend: Statt der zunächst veranschlagten zwölf Milliarden Euro grundsicherung holt nicht viele
sind im ersten Jahr lediglich 2,4 Milliarden Euro eingeplant. Über Kinder aus der Armut. Eine echte
Kinderarmut und die Folgen wurde im Verlauf der Debatte kaum Kindergrundsicherung sieht an-
gesprochen. Ab 2025 sollen zwar Leistungen für Kinder bürgerfreund- ders aus.
licher und leichter zugänglich gemacht werden. Doch für die meisten Kinder, die in Armut aufwach-
armen Familien bringt die Reform keine finanzielle Verbesserung. sen, kosten den Staat und die Ge-
sellschaft langfristig viel Geld:
Von Dagmar Ertl Der nun gefunden Kompromiss Über 100 Milliarden Euro Mehr-
ist allerdings enttäuschend, denn kosten werden jährlich durch Kin-
Kinderarmut in Deutschland ist die bereitgestellten Gelder rei- derarmut hervorgerufen, so eine
seit Jahren ein ungelöstes struk- chen nicht, um Kinderarmut wirk- aktuelle Studie des Deutschen In-
turelles Problem. Jedes vierte sam zu bekämpfen. Neben dem stitus für Wirtschaftsforschung
Kind im Saarland ist armutsge- Kindergeld – neuer Name „Garan- (DIW) im Auftrag der Diakonie. In-
fährdet. Rund drei Millionen Kin- tiebetrag“ – soll es künftig einen vestitionen zur Reduzierung von
der und Jugendliche unter 18 Jah- einkommensabhängigen „Zu- Kinderarmut seien deshalb „gut
ren wachsen in Deutschland un- satzbeitrag“ – bisher Kinderzu- angelegtes Geld“. Für eine wirk-
terhalb der offiziellen Armutsrisi- schlag und Bürgergeld – geben. same Kindergrundsicherung seien
koschwelle auf. Positiv ist, dass die Beantragung daher zusätzlich 20 Milliarden
Der Kampf gegen Kinderarmut der Kindergrundsicherung für El- Euro jährlich notwendig. Ausge-
ist eine der wichtigsten sozialpoli- tern deutlich einfacher werden bremst wurde eine umfangreiche
tischen Aufgaben, denn Armut Finanzierung durch die FDP, wobei
hat gravierende und langfristige Neubemessung des hauptsächlich zwei kritikwürdige
Folgen für das Leben der betrof- Existenzminimums nötig Argumente herhalten mussten:
fenen Kinder. Seit Jahren setzen Erstens wurde ein direkter Zusam-
sich Sozialverbände, Kirchen und soll und Alleinerziehende im Bür- menhang zwischen Kinderarmut
Organisationen im „Saarland So- gergeld von verbesserten An- und Zuwanderung behauptet.
zialgipfel“, darunter auch der DGB rechnungsregeln profitieren. Al- Zweitens wäre armen Kindern mit
und die Arbeitskammer, für eine lerdings werden die Leistungen mehr Geld nicht geholfen, weil das
Laut DIW sind grundlegende Reform der Kin- aus dem Bildungs- und Teilhabe- nicht bei ihnen ankommen würde.
für eine der- und Familienförderung hin zu paket nicht pauschal ausgezahlt, Man solle besser in Bildung inves-
wirksame einer echten Kindergrundsiche- sondern sollen weiterhin einzeln tieren. Tatsächlich ist die Zahl der
Kindergrund- rung ein: Die Vielzahl der unter- beantragt werden. Eine solide ausländischen Kinder im Grundsi-
sicherung schiedlichen Leistungen für Kin- Neubemessung des Existenzmi- cherungsbezug seit 2015 durch
zusätzlich 20 der sollen gebündelt werden und nimums für Kinder, wie im Koaliti- vermehrte Zuzüge von Geflüchte-
Milliarden so ausgestaltet, dass Kinder tat- onsvertrag vorgesehen, findet ten angestiegen. Verschwiegen
Euro jährlich sächlich aus der Armut geholt nicht statt. Von den eingeplanten wird dabei, dass ein großer Teil der
notwendig. werden. 2,4 Milliarden Euro fließt ein gro- Beziehenden von Bürgergeld er-
werbstätig ist und wegen niedriger
Einkommen auf aufstockende
Grundsicherung angewiesen ist.
Gleichwohl ist es völlig unange-
bracht, bei der Kinderarmut nach
Staatsangehörigkeit zu sortieren.
Eine ausreichende materielle Ab-
sicherung ist eine Grundvoraus-
setzung für gute Bildung. Denn mit
leerem Magen, in unzureichen-
Foto: Adobe Stock/M. Schuppich lernen. Deshalb braucht es beides:
dem Wohnraum und mit existen-
ziellen Sorgen lässt sich schlecht
ausreichende Mittel zur Überwin-
dung von Kinderarmut und für ein
gutes Bildungssystem.
Dagmar Ertl ist Referentin für
Arbeitsmarkt- und Armutspolitik.

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