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Politik + Gesellschaft
        „Die soziale Ungleichheit


        ist das Kardinalproblem“



        INTERVIEW  Nötig ist ein wirtschafts-, sozial- und steuerpolitischer Kurswechsel

        „Infektion, Invasion, Inflation. Arme   nehmen, Banken und Versicherun-  Drittens,  weil  sie  den  öffentlichen
        im Ausnahmezustand – Mittel-  gen, während die große Mehrheit   Diskurs und die politische Kultur
        schicht unter Druck“ – unter   der Bevölkerung zum Verkauf ihrer   unseres Landes maßgeblich be-
        diesem Titel hatte die AK im   Arbeitskraft  gezwungen  ist,  was   einflusst. Und viertens, weil es für
        vergangenen November  zu einer   weniger einträglich ist. Neben den   die Entwicklung der Bundesrepu-
        Veranstaltung mit dem Ungleich-  Wirtschaftsstrukturen, Eigentums-  blik ganz entscheidend ist, ob sich
        heitsforscher Prof. Dr. Christoph   verhältnissen  und Verteilungsme-  die Mittelschicht mit den Armuts-  Prof. Dr.
        Butterwegge eingeladen, um   chanismen sind Fehlentscheidun-  betroffenen solidarisiert oder diese   Christoph
        unter anderem über die wach-  gen der politisch Verantwortlichen,     sozial ausgrenzt und diskriminiert.  Butterwegge
        sende Armut im Zuge der Corona-   aktuelle  Ereignisse und  neue  Kri-                   (Foto:
        krise, des Ukrainekriegs, der   senphänomene für die extreme   In Deutschland gibt es keine   Swaantje
        Energiepreisexplosion und der   soziale Polarisierung  von Bedeu-  Chancengleichheit, das ist schon   Düsenberg),
        Inflation zu reden. Auch im Ge-   tung. Für ganz zentral halte ich die   lange bekannt, aber es wird nichts   Der Armuts-
        spräch mit der AK-Konkret betont   Deregulierung des Arbeitsmarktes,   dagegen getan. Im Gegenteil, es   forscher und
        Butterwegge, dass diese Krisen als   welche  etwa  mit  der  „Agenda   gibt immer mehr arme Kinder und   Politikwissen-
        Spaltpilze gewirkt und die soziale   2010“ und den sogenannten Hartz-  Jugendliche.  Woran  liegt  das?   schaftler,
        Ungleichheit verschärft haben. Die   Gesetzen vorangetrieben wurde:   Warum steuert die Politik nicht   lehrte von
        Fragen stellte Simone Hien.    Wenn man den Kündigungsschutz   dagegen? Was sollte sie ihrer Mei-  1998 bis 2016
                                     lockert,  die  Leiharbeit  liberalisiert,   nung nach tun?   an der Uni-
        Wir leben in einer Zeit multipler   Mini- und Midijobs einführt sowie   Anstatt  die  seit  30  Jahren  stei-  versität zu
        Krisen, die die individuellen Le-  den Abschluss von Werk- und Ho-  gende Familienarmut endlich mit-  Köln. Er ist
        benssituationen verschärfen  und   norarverträgen  erleichtert,  was   tels einer Kindergrundsicherung zu   Autor zahlrei-
        die Gesellschaft als Ganzes   kurz  nach  der Jahrtausendwende   bekämpfen, die den Namen wirk-  cher Veröf-
        enorm unter Druck setzen. Vor al-  geschehen ist, entsteht ein breiter   lich verdient,  stecken  SPD,  Bünd-  fentlichungen,
        lem im Saarland hat die  Armut   Niedriglohnsektor, der mittlerweile   nisgrüne und FDP das Steuergeld   unter ande-
        stark zugenommen. Was bedeu-  zwischen 20 und 25 Prozent aller   lieber in andere Projekte  wie die   rem der
        tet das konkret für die betroffenen   Beschäftigten  umfasst.  Da  sin-  Aufrüstung  der  Bundeswehr,  die   Bücher
        Menschen? Und  welche Folgen   kende Löhne mit steigenden Ge-  Ansiedlung  von IT-Firmen und    „Die polarisie-
        hat steigende Armut für die Ge-  winnen  einhergehen,  hat  die  Un-  Chipherstellern oder die Unterstüt-  rende
        sellschaft?                  gleichheit stark zugenommen.  zung klimaschädlicher Aktivitäten,   Pandemie.
        Die soziale Ungleichheit ist das                           etwa die Steuerbefreiung des   Deutschland
        Kardinalproblem unserer Gesell-  Bei  der  Veranstaltung  in  der  AK   Flugbenzins  für  Privatflugzeuge   nach Corona“
        schaft,  wenn  nicht  der  ganzen   haben Sie erwähnt, vor allem die   von Multimillionären. Dahinter ste-  und (mit
        Menschheit, weil daraus ökonomi-  Mittelschicht ansprechen zu wol-  hen  mächtige Wirtschaftsinteres-  Carolin
        sche Krisen, ökologische Katastro-  len. Aus welchem Grund?  sen, was bei Kindern und Jugend-  Butterwegge)
        phen sowie Kriege und Bürger-  Dafür gibt es mehrere Gründe: Ers-  lichen nicht der Fall ist. Nötig wäre   „Kinder der
        kriege  erwachsen.  Hierzulande   tens,  weil  sie  zahlenmäßig  die   ein wirtschafts-, sozial- und steuer-  Ungleichheit.
        schwindet der gesellschaftliche   größte Bevölkerungsgruppe bildet.   politischer Kurswechsel, der dafür   Wie sich die
        Zusammenhalt und gerät die De-  Zweitens,  weil  ich  sie  mit  Vorträ-  sorgen müsste, dass die Interessen   Gesellschaft
        mokratie in Gefahr, weil die Armen   gen,  Interviews  und  Veröffentli-  der Lohnabhängigen und ihrer Fa-  ihrer Zukunft
        materiell abgehängt, sozial ausge-  chungen  am  ehesten  erreiche.   milien mehr Beachtung finden.  beraubt“.
        grenzt und politisch nicht mehr
        vertreten  werden,  viele  Angehö-
        rige der Mittelschicht  vermehrt
        Angst  vor dem sozialen  Abstieg
        haben,  sich  von  den  etablierten
        Parteien abwenden und die kleine
        Gruppe der ganz Reichen über-
        mächtig wird, denn wer sehr reich
        ist, ist auch politisch einflussreich.
        Was sind die Ursachen sozialer                                                       Foto: Adobe Stock/gelmold
        Ungleichheit und wie kann sie be-
        kämpft werden?
        In „marktwirtschaftlich“ organisier-
        ten,  kapitalistischen  Gesellschaf-
        ten gehören einer kleinen Minder-  Kinderarmut   müsste   endlich   mit   einer   großzügigen
        heit der Bevölkerung die Unter-  Kindergrundsicherung bekämpft werden.

                                                                                        AK-Konkret 1|24  ·  31
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