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Recht + Rat
                           Das Präventionsverfahren birgt


                           sowohl Chancen als auch Risiken



                           SCHWERBEHINDERTENRECHT  Arbeitgeber muss angemessene Vorkehrung treffen

                           Für schwerbehinderte Be-
                           schäftigte gilt ein besonderer
                           Kündigungsschutz. Allerdings
                           nicht in den ersten sechs
                           Monaten eines Arbeitsverhält-
                           nisses. Das Arbeitsgericht Köln
                           entschied in einem Urteil, dass
                           der Arbeitgeber in dieser Zeit
                           jedoch zur Durchführung eines
                           Präventionsverfahrens ver-
                           pflichtet ist. Wenn sich das
                           Bundesarbeitsgericht dieser
                           Argumentation anschließen
                           würde, sollte es dazu Gelegen-
                           heit bekommen, könnte das für
                           Beschäftigte sowohl Chancen
                           als auch Hindernisse mit sich
                           bringen.
                           Von Uli Meisinger             Das Präventionsverfahren ist eine Schutzmaßnahme für schwerbe-
                                                         hinderte Beschäftigte. Es soll dabei helfen, dass ein Arbeitsverhält-
                           Die  Kündigung  des Arbeitsver-  nis möglichst dauerhaft fortgesetzt werden kann.
                           hältnisses  eines  schwerbehin-
                           derten Menschen durch den     (KSchG).  Man  spricht  insoweit   müssen. Zur Begründung  ver-
                           Arbeitgeber bedarf der Zustim-  auch  von der kündigungs-  wies er auf europäisches Recht
                           mung des Integrationsamtes    schutzrechtlichen Wartezeit.  und die europäische Recht-
                           (besonderer     Kündigungs-                                sprechung,  wonach Arbeitge-
                           schutz). Bevor das Zustim-    Sind  schwerbehinderte  Men-  ber, auch während einer Probe-
                           mungsverfahren bei der Be-    schen innerhalb dieser Warte-  zeit, „angemessene Vorkehrun-
                           hörde  eingeleitet  wird,  ist  zeit  also  völlig  schutzlos  ge-  gen“  treffen  müssen.  Gemäß
                           grundsätzlich ein ordnungsge-  stellt?                     Artikel  5  der  europäischen
                           mäßes    Präventionsverfahren   Nein, so das Arbeitsgericht Köln   Gleichbehandlungsrahmen-
                           nach § 167 Abs. 1 SGB IX durch-  (ArbG  Köln)  in  seinem  Urteil   richtlinie (RL 2000/78 EG) müs-
                           zuführen. Dieses hat zum Ziel,   vom  20.  Dezember  2023,  in   sen Arbeitgeber  grundsätzlich
                           eingetretene  Personen-, Ver-  dem es sich mit folgendem   „angemessene Vorkehrungen“
                           haltens- oder betriebsbedingte   Sachverhalt  beschäftigte:  Ein   treffen, um die Anwendung des
                           Schwierigkeiten  im Arbeitsver-  schwerbehinderter Beschäftig-  Gleichbehandlungsgrundsat-
                           hältnis, die zu dessen Gefähr-  ter  war  auf  einem  Bauhof be-  zes auf Menschen mit Behinde-
                           dung  führen können, zusam-   schäftigt. Die Behinderung re-  rung zu gewährleisten. Damit
                           men mit den Interessenvertre-  sultierte aus einem frühkindli-  werden  Maßnahmen  bezeich-
                           tungen und dem Integrations-  chen  Hirnschaden  und  führte   net, die Menschen mit Behinde-
                           amt zu beseitigen, damit das   zu  Konzentrations-  und  Lern-  rung vor Diskriminierung schüt-
                           Arbeitsverhältnis  möglichst  schwierigkeiten. Innerhalb der   zen  sollen.  Gemäß  dem  Urteil
                           dauerhaft  fortgesetzt werden   Probezeit erlitt der Beschäftigte   des Europäischen Gerichtshofs
                           kann.                         einen Unfall und war daraufhin   (EuGH)  aus  dem Jahr  2022  (C-
                                                         arbeitsunfähig.  Sein Arbeitge-  485/20,  HR  Rail)  kann  hierzu
                           Kein  Kündigungsschutz  inner-  ber kündigte ihm noch inner-  prinzipiell  auch  die  Verpflich-
                           halb der Wartezeit            halb der ersten sechs Monate,   tung des  Arbeitgebers zählen,
                           In  den  ersten  sechs  Monaten   wobei er gegenüber den betei-  einen Beschäftigten mit Behin-
                           eines Arbeitsverhältnisses, was   ligten Interessenvertretungen   derung auch schon  während
                           häufig auch dem Zeitraum einer   auf den Einarbeitungsverlauf   einer Probezeit auf einer für ihn
                           vereinbarten  Probezeit  ent-  verwies.  Hiergegen  klagte  der   geeigneten Stelle einzusetzen.
                           spricht, gilt aber grundsätzlich   Beschäftigte und  vertrat die   Die Versagung von angemesse-
                           weder der oben dargestellte   Auffassung,  die  Kündigung  sei   nen  Vorkehrungen kann laut
                           besondere  Kündigungsschutz   unwirksam.  Der Arbeitgeber   der UN-Behindertenrechtskon-
                           nach  SGB  IX  noch  der  allge-  hätte ihm  vor  Ausspruch der   vention,  die  seit  2009  auch  in
                           meine  Kündigungsschutz  nach   Kündigung   eine   leidensge-  Deutschland gilt, eine Diskrimi-
                           dem  Kündigungsschutzgesetz   rechte Beschäftigung anbieten   nierung darstellen.


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