Page 30 - AK-Konkret: 3 | 2024 | AK-SPEZIAL „LEBEN + FREIZEIT“
P. 30
Politik + Gesellschaft
100 Jahre AWO: Mehr als
„nur“ ein Wohlfahrtsverband
ENGAGEMENT Wo der Solidarität ein Gesicht gegeben wird
Im Dezember 1919 wurde die
AWO als „Hauptausschuss für
Arbeiterwohlfahrt in der SPD“
von Marie Juchacz ins Leben
gerufen. Fünf Jahre später folgte
die Gründung durch Angela und
Max Braun auch an der Saar. Die
besondere Situation des
Saarlandes, das von 1920 bis
1935 Mandatsgebiet des
Völkerbunds war, hatte für die
Verzögerung gesorgt. Foto: Katja Sponholz
Von Katja Sponholz
Es war die soziale Not im Land, Für Landesgeschäftsführer Jürgen Nieser wäre die Gesellschaft
die engagierte Menschen dazu ohne die AWO bedeutend ärmer.
veranlasste, die Arbeiterwohl-
fahrt am 13. Februar 1924 im einrichtungen, die Freiwillige 32 Jahre lang. Was sie an der
Saarland zu gründen: Mit Sup- Ganztagsbetreuung an Schulen, AWO besonders schätzt? „Das
penküchen für Kriegsheimkeh- Seniorenzentren und Einrichtun- Menschliche, das Soziale – ich
rer, Witwen und Waisen, mit Klei- gen für Menschen mit Behinde- fühle mich da einfach wohl.“ Als
derkammern und Möglichkeiten rungen. Hinzu kommen ambu- eines von vier Kindern habe sie
der Betreuung. 100 Jahre später lante Pflegeangebote, Sozialsta- von klein auf Zusammenhalt ge-
scheint die AWO nichts von ihrer tionen, Quartiersprojekte oder kannt. „Den habe ich immer ge-
Bedeutung verloren zu haben. Im die Beratung von Geflüchteten. sucht, und in der AWO gefun-
Gegenteil: „Diese Angebote fin- Und doch ist die AWO mehr den.“ Auch Carmen Krampe (52),
den wieder statt. Und sie haben als nur ein „gewöhnlicher Wohl- seit 2020 Kreisvorsitzende in St.
wieder starken Zulauf“, sagt Lan- fahrtsverband“, meint Nieser: Wendel, muss nicht lange über-
desgeschäftsführer Jürgen Denn wer für sie arbeite, identi- legen, warum sie sich bei der
Nieser. Eine Entwicklung, die ihn fiziere sich auf besondere Weise AWO engagiert: „Durch sie habe
nachdenklich stimmt. Er hofft, mit ihren Werten und ihrem Ein- ich ganz viel nette, liebenswerte
dass man aus der Weimarer Re- satz für Demokratie, Freiheit, Ge- Menschen kennengelernt. Und
publik die Lehren ziehe: „Damit hier kann ich Verantwortung
soziale Verwerfungen nicht dazu Verantwortung übernehmen übernehmen und etwas bewe-
führen, dass Ausgrenzung und und etwas bewegen gen.“
demokratiefeindliche Bewegun- Doch auch, wenn eine Mit-
gen hier Resonanzboden finden“, rechtigkeit, Toleranz und Vielfalt. gliedschaft in der AWO in vielen
sagt der 62-Jährige. Anders for- Und nicht zuletzt auch einem Familien über Generationen wei-
muliert: „Die beste Prävention für besonderen Menschenbild. So, tergegeben wird, kämpft auch
Demokratie ist eine gute Sozial- wie es der frühere Ministerpräsi- dieser Verband wie viele andere
arbeit.“ dent Reinhard Klimmt formuliert um Nachwuchs. Um junge Men-
Genau die hat sich die AWO habe: „Die AWO erfüllt den schen anzusprechen, trete man
seit nunmehr einem Jahrhundert Grundwert Solidarität mit Leben, heute ganz bewusst politischer
auf die Fahnen geschrieben. gibt ihm ein Gesicht, formuliert auf, sagt Jürgen Nieser. Etwa
Und ihre Bilanz kann sich sehen ihn nicht nur, sondern realisiert durch eine klare Positionierung
lassen: Heute gibt es im Saar- ihn als brüderliche und schwes- gegen Rechtsextreme oder die
land über 100 Ortsvereine in sie- terliche Pflicht. Nicht von oben Sparpläne der Bundesregierung
ben Kreisverbänden und rund herab, nicht als gönnerische Dass es sich aus vielen Gründen
11.600 Mitglieder, die das ehren- Mildtätigkeit, nicht als Publicity lohnt, Teil der großen AWO-Fa-
amtliche Fundament bilden. heischende Charity, sondern mit milie zu sein und sich für ihre
Mehr als 5.000 Mitarbeiterinnen Respekt und auf Augenhöhe mit Werte zu engagieren, steht für
und Mitarbeiter leisten täglich den Hilfsbedürftigen.“ den Landesgeschäftsführer au-
kompetente und fürsorgliche Eine, die sich hier seit nun- ßer Zweifel. Deshalb braucht er
soziale Arbeit vor Ort in 310 Ein- mehr 55 Jahren engagiert, ist die nur zwei Worte, um zu beant-
richtungen. Dazu zählen neben 81-jährige Waltraud Trauthwein. worten, was das Leben, was die
der Schule für Pflegekräfte auch Bis März hatte sie den Vorsitz Gesellschaft ohne die AWO
Krippen und Kitas, Familienhilfe- der AWO Sulzbach inne – genau wäre: „Bedeutend ärmer.“
30 · AK-Konkret 3|24