Page 11 - AK-Konkret: 1 | 2024 | AK-SPEZIAL „Aktiv im Betrieb“
P. 11

Titelthema
        Um die Arbeitszeitverkürzung


        ranken sich viele Mythen



        UMSETZUNG  Argumente gegen Arbeitszeitverkürzung entsprechen nicht immer den Fakten

        In der Geschichte der Arbeiterbe-
        wegung sind Kämpfe um Zeit die
        am härtesten und erbittertsten
        geführten Arbeitskämpfe
        überhaupt. Einige Gegenargu-
        mente (oder auch „Mythen“)
        tauchen im Streit um kürzere
        Arbeitszeiten immer wieder auf.
        Zeit für eine kritische Auseinan-
        dersetzung.

        Von Frederik Moser
        Mythos  1:  Arbeitszeitverkürzung
        kostet uns Wohlstand          Dass eine Arbeitszeitverkürzung den Fachkräftemangel verschärft,
        Die historische Entwicklung zeigt   ist vielmehr Mythos denn Fakt.
        genau das Gegenteil. Obwohl die
        Arbeitszeiten stetig verkürzt wur-  ringern,  weil  viele  Krankheiten   Mythos  3: Arbeitszeitverkürzung
        den  (von  ehemals  etwa  70  Wo-  und Unfälle  während und auch   ist nicht finanzierbar
        chenstunden  sukzessive  auf  48,   durch die Arbeit beziehungsweise   Arbeitszeitverkürzung ist durch
        dann  anschließend  auf  40  und   durch lange Arbeitszeiten entste-  die enormen Produktivitätsstei-
        teilweise  sogar  auf  35),  ist  unser   hen  (insbesondere  Burnouts).   gerungen aufgrund des techno-
        materieller Wohlstand enorm an-  Zum anderen können kürzere Ar-  logischen  Fortschrittes  finanzier-
        gestiegen.  Daten  der  OECD  zei-  beitszeiten  dazu  beitragen,  dass   bar – und das sogar mit  vollem
        gen  sogar,  dass  Länder  mit  kur-  Fachkräfte länger im Erwerbsle-  Lohnausgleich und gleichblei-
        zen Arbeitszeiten im Durchschnitt   ben  verbleiben.  Viele  Beschäf-  bender Gewinnquote für Unter-
        wohlhabender sind als andere (je   tigte  gehen  früher  in  Rente, weil   nehmen, wie  Berechnungen  zei-
        höher  das  Pro-Kopf  Einkommen,   körperliche oder psychische Be-  gen .  In  den  letzten  Jahrzehnten
                                                                      1
        desto kürzer ist die durchschnitt-  lastungen durch die Beanspru-  kamen  Produktivitätssteigerun-
        liche  Wochenarbeitszeit).  In  ent-  chung im Job nicht bis zur Regel-  gen aber überproportional den
        wickelten Volkswirtschaften  zei-  altersgrenze  durchzuhalten  sind,   Arbeitgebern in Form immer hö-
        gen  Untersuchungen  außerdem,   oder  schlicht  auch  deswegen,   herer  Gewinne  zugute.  Beschäf-
        dass Faktoren wie „Zeitwohlstand“   weil der Wunsch nach mehr freier   tigte müssen dafür kämpfen, dass
        für  die  Zufriedenheit  der  Men-  Zeit besteht.          sich der technologische Fort-
        schen bedeutsamer sind, als im-  Letzten Endes  würde sich   schritt zukünftig in freie Zeit über-
        mer mehr Konsum beziehungs-   durch eine allgemeine  Arbeits-  setzt. Teilweise finanziert sich Ar-
        weise die fortlaufende Steigerung   zeitverkürzung auch die Praxis   beitszeitverkürzung sogar selbst:
        materieller  Besitztümer.  Mehr   der gesellschaftlichen Fürsorge-  Studien  zeigen,  dass  Unterneh-
        freie Zeit wäre für die Gesellschaft   arbeit ändern. So könnte zum Bei-  men mit kurzen Arbeitszeiten Pro-
        daher sogar ein Wohlstandshebel   spiel die Kinderbetreuung wieder   duktivitätsgewinne  erzielen,  weil
        und ökologisch überaus sinnvoll.  mehr in den Mittelpunkt der Fami-  Mitarbeiter motivierter und zufrie-
                                      lie  rücken.  In  Kitas  wären  dann   dener an die  Arbeit gehen und
        Mythos 2: Arbeitszeitverkürzung   weniger Randzeiten abzudecken,   Arbeitsprozesse neu aufgestellt
        verschärft den Fachkräfteman-  was den Fachkräftemangel dort   werden. Zudem würde die Staats-
        gel                           entschärft.                  kasse in vielerlei Hinsicht entlas-
        Der Fachkräftemangel in Unter-  In der Summe gibt es daher   tet: Durch kürzere  Arbeitszeiten
        nehmen ist oft hausgemacht und   viele Effekte, die dem Fachkräfte-  verbessert sich die Gesundheit
        entsteht durch schlechte Arbeits-   mangel sogar entgegenwirken!   der  Beschäftigten,  wodurch  das
        und   Ausbildungsbedingungen.   Zu  beachten  ist  außerdem,  dass   Gesundheits-  und  Pflegesystem
        Unternehmen mit kurzen Arbeits-  viele Fachkräfte sowieso bereits   entlastet  wird.  Gleichzeitig  wer-
        zeiten gewinnen hingegen stark   in Teilzeit arbeiten (insbesondere   den die Rentenkassen geschont,
        an  Attraktivität,  denn  die  Länge   in der Pflege), dafür aber Lohnein-  weil Frühverrentungen abneh-  1  Bontrup, H.J.
        des Arbeitstages  wird  als Aus-  bußen in Kauf nehmen. Eine kurze   men und Erwerbstätige länger im   und Massarrat,
        wahlkriterium  bei  der  Jobsuche   Vollzeit als neue Norm würde sich   Erwerbsleben  verbleiben.  Auch   M.: Arbeitszeit-
        immer wichtiger. Es kann zudem   für Teilzeitkräfte daher nicht in ei-  können durch die  Verkürzung   verkürzung
        angenommen werden,  dass  kür-  ner  reinen Arbeitszeitverkürzung   neue  Jobs  entstehen,  wodurch   jetzt! 30-Stun-
        zere Arbeitszeiten zum einen die   äußern,  sondern  mehr  Geld  im   die Arbeitslosigkeit sinkt und das   den-Woche
        Ausfallquote von Fachkräften ver-  Portemonnaie bedeuten.  Sozialsystem entlastet wird.  fordern!

                                                                                         AK-Konkret 1|24 ·  11
   6   7   8   9   10   11   12   13   14   15   16