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Titelthema zur Krise
Wohlstandsverluste mit
höheren Einkommen abfedern
TARIFRUNDEN Beschäftigte brauchen dauerhafte Einkommenssteigerungen
1 https://www. Nachdem Beschäftigte wegen Trotz gestiegener Arbeitnehmerentgelte
ifw-kiel.de/ Corona bereits Einkommensver- blieb die Lohnquote* unverändert
de/publikatio- luste verkraften mussten, reißt
nen/medien- jetzt die Inflation bis weit in die
informatio- Mitte der Einkommenspyramide Hohe Unternehmensgewinne bei modera- Tarifabschlüse schöpfen den Verteilungs-
spielraum stärker aus. Dennoch erreicht
ten Tarifabschlüssen lassen die Lohnquote
nen/2022/ noch größere Löcher in die 25.000 auf ein historisches Tief absinken. die Lohnquote nicht ihr früheres Niveau. 82,0
herbstprog- Budgets privater Haushalte. nur kurzfristige 80,0
nose-ifw-kiel- Auch Unternehmen leiden unter 20.000 krisenbedingteAnstiege
hohe-energie- der Last steigender Energie- 15.000 78,0
preise-drue- preise. Die aktuellen Tarifrunden in Mio. € 76,0 in %
cken-deut- finden daher unter äußerst 10.000
sche-wirt- unsicheren und historisch 74,0
schaft-in-re- schwierigen Rahmenbedingun- 5.000 Absinken auf 72,0
zession/ gen statt. Sie müssen aber einen historisches Tief
tragfähigen Kompromiss finden, 0 2000 2002 2004 2006 2008 2010 2012 2014 2016 2018 2020 70,0
um nicht zuletzt den sozialen Arbeitnehmerentgelt Lohnquote
Frieden im Land zu wahren. *Als funktionale Einkommensverteilung bildet die Lohnquote den Anteil der Arbeitnehmereinkommen am
Volkseinkommen ab. Wegen fehlender Unternehmenszentralen ist die Lohnquote im Saarland höher.
Von Karsten Ries
Quelle: Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen der Länder Grafik: Arbeitskammer
Die Herausforderungen sind im-
mens: Das Kieler Institut für noch weniger als die Hälfte der preisentwicklung brauchen die
Weltwirtschaft schätzt, dass Beschäftigten (48 Prozent) tarif- Beschäftigten stattdessen ein
deutsche Energieimporte im gebunden – 2002 waren es deutliches tabellenwirksames –
Jahr 2022 bundesweit um 123 noch 68 Prozent. Arbeitgeber also dauerhaftes – Einkom-
Milliarden Euro und im Jahr 2024 fordern zwar gerne die Tarifauto- mensplus. Nur so können die
um 136 Milliarden Euro teurer nomie, verbunden mit der For- Einkommen mit den Preisen an-
sein werden. Gleichzeitig trei- derung, der Staat solle sich aus nähernd Schritt halten.
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ben die Energiepreise die allge- dem Tarifgeschehen heraushal- Auch wenn aktuell allein über
meine Inflation weiter nach oben. ten. Gleichzeitig untergraben Tarifpolitik kein vollständiger In-
Zwar ist zumindest mittelfristig und beschädigen sie diese zent- flationsausgleich möglich ist,
nochmals mit einer Normalisie- rale Institution aber, indem sie wird die tarifpartnerschaftliche
rung der Verbraucherpreisent- entweder nicht Mitglied in einem Stärkung der Arbeitnehmerein-
wicklung zu rechnen, das höhere tariffähigen Arbeitgeberverband kommen perspektivisch zu posi-
Preisniveau wird aber bleiben. sind oder für sich in Anspruch tiven Wachstumsimpulsen über
Beide Entwicklungen bedeuten nehmen, trotz Mitgliedschaft die die Binnennachfrage führen. Au-
also im Kern einen erheblichen ßerdem kann nur eine flächen-
Wohlstandsverlust. Die hieraus Eine Stärkung der deckende Tarifbindung verhin-
resultierenden Belastungen Tarifbindung ist notwendig dern, dass sich die Einkommens-
müssen fair verteilt werden. Ne- schere immer weiter öffnet und
ben staatlichen Umverteilungs- entsprechenden Tarifverträge die Kosten der Krise hauptsäch-
maßnahmen sind sozialpartner- nicht anzuwenden, es sich also lich auf die Arbeitnehmerinnen
schaftliche Vereinbarungen un- um eine Mitgliedschaft ohne Ta- und Arbeitnehmer abgewälzt
verzichtbar, die branchenspezifi- rifbindung handelt. Damit entzie- werden.
schen Besonderheiten hen sie sich ihrer sozialpartner- Angesichts dessen fordert der
Rechnung tragen, weil die wirt- schaftlichen und gesamtgesell- Deutsche Gewerkschaftsbund
schaftliche Lage sehr verschie- schaftlichen Verantwortung. eine Zeitenwende in der Tarifbin-
den sein kann. Gerade jetzt ist für viele Arbeit- dung, denn starke Gewerkschaf-
Allerdings befinden sich in die- nehmerinnen und Arbeitnehmer ten und Sozialpartnerschaft leis-
sem Jahr einige große Branchen eine finanzielle Entlastung wich- ten einen wichtigen Beitrag zu
in der Friedenspflicht, das heißt, tig. Steuerfreie Einmalzahlungen sozialem Frieden und dem Er-
es finden keine Tarifverhandlun- klingen zwar attraktiv, können halt von Arbeitsplätzen. Die Stär-
gen statt. Sehr viel schwerer aber allenfalls kurzfristige Mehr- kung der Tarifbindung ist des-
wiegt zudem, dass die Reich- belastung ausgleichen und die halb notwendig. Jetzt!
weite der Tarifbindung immer Kaufkraft nur für wenige Monate
weiter abnimmt. Im Saarland wa- erhöhen, weil die Wirkung wie Karsten Ries leitet das Referat
ren 2021 nur noch 27 Prozent der bei einem Strohfeuer verpufft. Wirtschaftsstruktur-, Arbeits-
saarländischen Betriebe und nur Angesichts der Verbraucher- markt- und Verteilungspolitik.
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