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Titelthema
Arbeitsmigration in der Pflege
braucht Reflexion und Reformen
AUSBEUTUNG Etabliert sich in der Pflege eine neue Form des Kolonialismus?
Arbeitsmigration in der Pflege hat
in den letzten Jahren eine im-
mense Bedeutung gewonnen.
Durch den demografischen Wan-
del und den wachsenden Pflege-
bedarf in vielen westlichen Län-
dern ist der Zustrom ausländi-
scher Pflegekräfte zu einem zent-
ralen Bestandteil des Gesund- Foto: Adobe Stock/Prazis Images
heitssystems geworden. Diese
Entwicklung bringt jedoch erheb-
liche Herausforderungen mit sich
und wirft auch laut ICN (Internati-
onal Council of Nurses) Fragen Migration darf nicht als einseitige Ausbeutung, sondern muss als ge-
auf, die an historische Formen genseitiger Gewinn betrachtet werden.
des Kolonialismus erinnern.
Ausbeutung sind keine Selten- sert werden. Zur Bewältigung
Von Esther Braun heit, und viele sehen sich ge- dieser Problemstellung und der
zwungen, weit über das verein- Entkräftung des Verdachts des
Die alternde Bevölkerung in vie- barte Maß hinaus zu arbeiten, um Neokolonialismus, sind umfas-
len westlichen Ländern führt zu den Lebensunterhalt zu sichern sende Reformen notwendig. Es
einem stark steigenden Pflege- und die Familie im Heimatland zu bedarf fairer Arbeitsbedingun-
bedarf, den die eigenen Arbeits- unterstützen. gen, einer angemessenen Be-
kräfte allein nicht decken kön- Diese Umstände werfen den zahlung und die Anerkennung
nen. In Deutschland wird laut Verdacht auf, dass Arbeitsmigra- der Qualifikationen. Zudem muss
Deutschem Krankenhaus Institut tion in der Pflege eine neue Form Arbeitsmigration so gestaltet
(DKI) bis 2030 eine Verdoppe- des Kolonialismus darstellt. His- werden, dass sie für beide Seiten
lung des Bedarfs an Pflegekräf- torisch betrachtet ist Kolonialis- – die Herkunfts- und die Aufnah-
ten erwartet. Die Folge ist, dass mus die Ausbeutung von Arbeits- meländer – vorteilhaft sind. Inter-
immer mehr ausländische Fach- nationale Kooperationen können
kräfte als Lückenfüller rekrutiert Arbeitsmigration muss für helfen, die Arbeitsmigration der
werden müssen, und die meisten beide Seiten vorteilhaft sein Pflege gerechter zu machen.
dieser Personen stammen aus Programme, die Ausbildung und
osteuropäischen Ländern, Asien kraft und Ressourcen koloniali- Austausch fördern, können so-
und Afrika. sierter Länder durch die Kolonial- wohl den Pflegebedarf in den
Sprachbarrieren sind oft nur mächte. So könnte auch der aufnehmenden Ländern decken
die erste von vielen Herausforde- aktuelle Weg gedeutet werden: als auch zur Entwicklung der Ge-
rungen, gefolgt von kulturellen Finanzstarke Länder rekrutieren sundheitssysteme in den Her-
Unterschieden und unterschied- Pflegekräfte aus ärmeren Regio- kunftsländern beitragen. Migra-
lichen Pflegeverständnissen. nen, um die eigenen Bedürfnisse tion darf nicht als einseitige Aus-
Viele erleben Diskriminierung zu decken, während die sozialen beutung, sondern muss als ge-
und mangelnde Anerkennung und ökonomischen Kosten die genseitiger Gewinn betrachtet
ihrer beruflichen Qualifikation Herkunftsländer belasten. Diese werden.
und die Arbeitsbedingungen verlieren oft wertvolle Fachkräfte, Die aktuellen Praktiken erin-
sind häufig schlechter als für ein- die auch in ihrer Heimat dringend nern in einigen Aspekten an kolo-
heimische Pflegekräfte. Berichtet benötigt werden. Diese „Brain niale Ausbeutungsmechanismen
wird von Überlastung, mangeln- Drain“ genannte Abwanderung und brauchen eine kritische Re-
der Unterstützung und unzurei- von qualifiziertem Personal kann flexion und Reform. Nur durch ge-
chender Bezahlung. Ein anderes die Entwicklung und den Aufbau rechte, nachhaltige und inklusive
Problem ist die strukturelle Be- effektiver Gesundheitssysteme in Ansätze kann gewährleistet wer-
nachteiligung, denn oft sind die diesen Ländern erheblich behin- den, dass die Pflegebedürftigen
Arbeitsverträge befristet, und die dern. Außerdem profitieren die die notwendige Unterstützung
Aufenthaltsgenehmigung ist an aufnehmenden Länder wirt- erhalten, ohne dass dabei die
den Arbeitsplatz gebunden. Dies schaftlich von der migrantischen Rechte und das Wohlergehen der
schafft ein Abhängigkeitsverhält- Arbeitskraft, während die ge- Pflegekräfte geopfert werden.
nis und macht es schwerer, sich samtgesellschaftlichen Bedin-
gegen schlechte Arbeitsbedin- gungen, die zur Migration führen, Esther Braun leitet das Referat
gungen zu wehren. Fälle von kaum thematisiert oder verbes- Pflege.
AK-Konkret 3|24 · 9