Page 9 - AK-Konkret: 3 | 2024 | AK-SPEZIAL „LEBEN + FREIZEIT“
P. 9

Titelthema
        Arbeitsmigration in der Pflege


        braucht Reflexion und Reformen



        AUSBEUTUNG  Etabliert sich in der Pflege eine neue Form des Kolonialismus?

        Arbeitsmigration in der Pflege hat
        in  den  letzten  Jahren  eine  im-
        mense  Bedeutung  gewonnen.
        Durch den demografischen Wan-
        del und den wachsenden Pflege-
        bedarf  in vielen westlichen  Län-
        dern  ist  der  Zustrom  ausländi-
        scher Pflegekräfte zu einem zent-
        ralen Bestandteil des Gesund-                                                        Foto: Adobe Stock/Prazis Images
        heitssystems  geworden.  Diese
        Entwicklung bringt jedoch erheb-
        liche Herausforderungen mit sich
        und wirft auch laut ICN (Internati-
        onal  Council  of  Nurses)  Fragen   Migration darf nicht als einseitige Ausbeutung, sondern muss als ge-
        auf,  die  an  historische  Formen   genseitiger Gewinn betrachtet werden.
        des Kolonialismus erinnern.
                                     Ausbeutung sind keine Selten-  sert  werden. Zur Bewältigung
        Von Esther Braun             heit, und  viele sehen sich ge-  dieser Problemstellung und der
                                     zwungen, weit  über  das verein-  Entkräftung des  Verdachts des
        Die alternde Bevölkerung in vie-  barte Maß hinaus zu arbeiten, um   Neokolonialismus, sind umfas-
        len westlichen Ländern führt zu   den  Lebensunterhalt  zu  sichern   sende Reformen notwendig. Es
        einem  stark  steigenden  Pflege-  und die Familie im Heimatland zu   bedarf  fairer Arbeitsbedingun-
        bedarf, den die eigenen Arbeits-  unterstützen.            gen, einer angemessenen Be-
        kräfte allein nicht decken kön-  Diese Umstände  werfen den   zahlung und die  Anerkennung
        nen. In Deutschland  wird laut   Verdacht auf, dass Arbeitsmigra-  der Qualifikationen. Zudem muss
        Deutschem Krankenhaus Institut   tion in der Pflege eine neue Form   Arbeitsmigration so gestaltet
        (DKI)  bis  2030  eine  Verdoppe-  des  Kolonialismus  darstellt.  His-  werden, dass sie für beide Seiten
        lung des Bedarfs an Pflegekräf-  torisch  betrachtet  ist  Kolonialis-  – die Herkunfts- und die Aufnah-
        ten erwartet. Die Folge ist, dass   mus die Ausbeutung von Arbeits-  meländer – vorteilhaft sind. Inter-
        immer mehr ausländische Fach-                              nationale Kooperationen können
        kräfte  als  Lückenfüller  rekrutiert   Arbeitsmigration muss für   helfen, die  Arbeitsmigration der
        werden müssen, und die meisten   beide Seiten vorteilhaft sein  Pflege  gerechter  zu  machen.
        dieser Personen stammen aus                                Programme, die Ausbildung und
        osteuropäischen  Ländern,  Asien   kraft und Ressourcen koloniali-  Austausch fördern, können so-
        und Afrika.                  sierter Länder durch die Kolonial-  wohl  den  Pflegebedarf  in  den
          Sprachbarrieren  sind  oft  nur   mächte. So könnte auch der   aufnehmenden Ländern decken
        die erste von vielen Herausforde-  aktuelle  Weg  gedeutet  werden:   als auch zur Entwicklung der Ge-
        rungen,  gefolgt  von  kulturellen   Finanzstarke  Länder  rekrutieren   sundheitssysteme  in  den  Her-
        Unterschieden und unterschied-  Pflegekräfte aus ärmeren Regio-  kunftsländern beitragen. Migra-
        lichen   Pflegeverständnissen.   nen, um die eigenen Bedürfnisse   tion darf nicht als einseitige Aus-
        Viele erleben Diskriminierung   zu decken, während die sozialen   beutung, sondern muss als  ge-
        und  mangelnde Anerkennung   und  ökonomischen  Kosten  die   genseitiger Gewinn betrachtet
        ihrer  beruflichen  Qualifikation   Herkunftsländer  belasten.  Diese   werden.
        und  die Arbeitsbedingungen   verlieren oft wertvolle Fachkräfte,   Die aktuellen Praktiken erin-
        sind häufig schlechter als für ein-  die auch in ihrer Heimat dringend   nern in einigen Aspekten an kolo-
        heimische Pflegekräfte. Berichtet   benötigt  werden. Diese „Brain   niale Ausbeutungsmechanismen
        wird von Überlastung, mangeln-  Drain“  genannte Abwanderung   und brauchen eine kritische Re-
        der Unterstützung und unzurei-  von qualifiziertem Personal kann   flexion und Reform. Nur durch ge-
        chender Bezahlung. Ein anderes   die Entwicklung und den Aufbau   rechte, nachhaltige und inklusive
        Problem ist die strukturelle Be-  effektiver Gesundheitssysteme in   Ansätze kann gewährleistet wer-
        nachteiligung, denn oft sind die   diesen Ländern erheblich behin-  den,  dass  die  Pflegebedürftigen
        Arbeitsverträge befristet, und die   dern.  Außerdem  profitieren  die   die notwendige Unterstützung
        Aufenthaltsgenehmigung ist an   aufnehmenden   Länder   wirt-  erhalten, ohne dass dabei die
        den Arbeitsplatz gebunden. Dies   schaftlich von der migrantischen   Rechte und das Wohlergehen der
        schafft ein Abhängigkeitsverhält-  Arbeitskraft,  während die ge-  Pflegekräfte geopfert werden.
        nis und macht es schwerer, sich   samtgesellschaftlichen  Bedin-
        gegen  schlechte Arbeitsbedin-  gungen, die zur Migration führen,   Esther Braun leitet das Referat
        gungen  zu wehren.  Fälle von   kaum thematisiert oder  verbes-  Pflege.

                                                                                         AK-Konkret 3|24 ·  9
   4   5   6   7   8   9   10   11   12   13   14