Mindestens 300.000 Vollzeit-Pflegekräfte stünden in Deutschland durch Rückkehr in den Beruf oder Aufstockung der Arbeitszeit zusätzlich zur Verfügung – sofern sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege deutlich verbessern. Das ergibt die neue Studie „Ich pflege wieder, wenn…“*. Die Untersuchung macht auf Basis einer großen bundesweiten Befragung mehrere Modellrechnungen auf und rechnet das Potenzial für alle aufstockungswilligen Teilzeit-Pflegefachkräfte sowie erstmals auch für Beschäftigte in der Pflege hoch, die ihrem Beruf in den vergangenen Jahren den Rücken gekehrt haben und sich eine Rückkehr vorstellen können. So ergibt sich ein rechnerisches Potenzial von 300.000 Pflegekräften in Vollzeit bei sehr vorsichtiger Kalkulation, in einem optimistischen Szenario sogar von bis zu 660.000 Vollzeitkräften. Mehr als 80 Prozent dieses Potenzials beruht auf der Rückkehr „ausgestiegener“ Fachkräfte (detaillierte Zahlen am Ende der PM und in der Tabelle im Anhang).
An der Online-Befragung haben im vergangenen Jahr rund 12.700 „ausgestiegene“ sowie in Teilzeit beschäftigte Pflegekräfte teilgenommen. Die Studie baut auf einer Bremer Pilotstudie auf und ist Ergebnis einer Kooperation der Arbeitnehmerkammer Bremen, der Arbeitskammer im Saarland und des Instituts Arbeit und Technik (IAT), Westfälische Hochschule in Gelsenkirchen. Die Hans-Böckler-Stiftung hat die Studie gefördert.
In der Pflege herrscht schon heute bundesweit ein eklatanter Fachkräftemangel. Dieser wird sich weiter zuspitzen – allein in den nächsten zehn bis zwölf Jahren gehen 500.000 Pflegefachkräfte in Rente. Es dauert aktuell 230 Tage, bis die Stelle einer Krankenpflegefachkraft besetzt werden kann, 210 Tage für die Stellenbesetzung einer Altenpflegefachkraft. „Es muss uns zeitnah gelingen, Pflegekräfte zu gewinnen. Das ist eine der größten sozialpolitischen Herausforderungen dieser Zeit“, mahnt Elke Heyduck, Geschäftsführerin der Arbeitnehmerkammer Bremen.
In der bundesweiten Befragung stand deshalb die Frage im Mittelpunkt, unter welchen Bedingungen bereits ausgebildete, aber „ausgestiegene“ Pflegekräfte in ihren Beruf zurückkehren beziehungsweise Teilzeit-Pflegekräfte ihre Arbeitszeit erhöhen würden. Und wie groß ist unter den richtigen Arbeitsbedingungen das Potenzial an Pflegekräften? Das erstaunliche Ergebnis: Die Hälfte der Teilzeitbeschäftigten und sogar 60 Prozent der Ausgestiegenen können sich eine Rückkehr in den Beruf bzw. ein Aufstocken der Stunden vorstellen.
Mehr Personal und verlässliche Arbeitszeiten gewünscht
„Das ist eine sehr gute Nachricht für die Pflege – doch diese Fachkräfte kommen nicht von allein zurück“, betont Elke Heyduck. Und weiter: „Die Pflegebeschäftigten wissen sehr genau, was sich ändern muss, damit sie ihren verantwortungsvollen Beruf so ausüben können, wie es ihren fachlichen Vorstellungen und ihrer Ausbildung entspricht.“
Als stärkste Motivation nennen die Befragten eine Personaldecke, die sich tatsächlich am Bedarf der pflegebedürftigen Menschen ausrichtet. Außerdem wünschen sich Pflegekräfte eine bessere Bezahlung und verlässliche Arbeitszeiten. Mehr Zeit für menschliche Zuwendung zu haben, nicht unterbesetzt arbeiten zu müssen und verbindliche Dienstpläne sind für die Befragten weitere zentrale Bedingungen. Ebenso wünschen sie sich respektvolle Vorgesetzte, einen kollegialen Umgang mit allen Berufsgruppen, mehr Augenhöhe gegenüber den Ärztinnen und Ärzten, eine vereinfachte Dokumentation und eine bessere Vergütung von Fort- und Weiterbildungen.
Engagement auf dem Arbeitsmarkt und präferierte Arbeitsbereiche
In der Befragung konnten beide Gruppen auch ihre Arbeitszeitwünsche angeben. Dabei stellt sich heraus, dass Teilzeitkräfte ihre Arbeitszeit im Mittel (Median) um 10 Stunden pro Woche aufstocken würden und „ausgestiegene“ Pflegekräfte sich eine Rückkehr in den Pflegeberuf mit 30 Wochenstunden vorstellen können.
Darüber hinaus hat die Befragung ermittelt, wie aktiv die „ausgestiegenen“ Pflegekräfte mit Blick auf eine mögliche Rückkehr sind: „Bereits ein Drittel der potenziellen Rückkehrerinnen und Rückkehrer haben Stellenangebote angesehen, knapp sechs Prozent stehen im Kontakt mit einem Arbeitgeber. Die übrigen denken mindestens einmal im Monat darüber nach, in den Beruf zurückzukehren, sind bislang aber noch nicht aktiv geworden“, erläutert Michaela Evans, Direktorin des Forschungsschwerpunktes Arbeit & Wandel am IAT.
Und wo wollen die befragten Ausgestiegenen arbeiten? Im Vergleich der Arbeitsbereiche vor dem Ausstieg und den Bereichen, in die ein Wiedereinstieg in die Pflege angestrebt wird, zeigt sich zunächst Stabilität: Ausgestiegene geben überwiegend den ehemaligen Arbeitsbereich als gewünschten Bereich für einen Wiedereinstieg an. Dies gilt insbesondere für ehemals im Krankenhaus und in der Psychiatrie Beschäftigte. „Auffällig ist, dass ehemalige Beschäftigte aus den ambulanten Pflege- und Betreuungsdiensten ihren eigenen Bereich seltener als Wiedereinstiegsbereich angeben“, hat Michaela Evans beobachtet.
Was muss sich ändern in der Pflege?
Ohne Zweifel gibt es nicht das eine „Patentrezept“, denn bessere Arbeitsbedingungen erfordern mehr Pflegepersonal und andersherum. Entscheidend ist laut Studienverantwortlichen, die Negativspirale aus problematischen Arbeitsbedingungen und daraus folgendem Rückzug aus der Pflege entgegenzuwirken und stattdessen zur Stundenerhöhung und Rückkehr in den Beruf zu motivieren.
An erster Stelle steht die Einführung einer angemessenen, am tatsächlichen Pflegebedarf ausgerichteten Personalbemessung – für den Bereich der Krankenhäuser, für die stationäre und die ambulante Langzeitpflege. „Mit Sorge betrachten wir daher die Diskussion um die Pflegepersonalregelung 2.0 (PPR 2.0), auf die Pflegekräfte in den Krankenhäusern seit Jahren drängen und die – trotz Koalitionsvertrag – womöglich nicht eingeführt werden soll. Die Regelung darf als sehr gute Übergangslösung nicht unter die Räder kommen. Das wäre in der jetzigen Situation das absolut falsche Signal“, betont Beatrice Zeiger, Geschäftsführerin der Arbeitskammer des Saarlandes. „In der stationären Langzeitpflege muss die ‚Personalbedarfsmessung in vollstationären Pflegeeinrichtungen‘ (PeBeM) vollständig umgesetzt werden und es bedarf eines verbindlichen Zeitplanes dafür.“
Angemessene Bezahlung – Tarifbindung stärken
Die Geschäftsführerinnen der Arbeitskammer des Saarlandes und der Arbeitnehmerkammer Bremen betonen die zentrale Forderung vieler Befragter nach einer ausreichenden Bezahlung: „Pflegekräfte müssen endlich entsprechend den hohen Anforderungen, die der Beruf mit sich bringt, entlohnt werden – insbesondere in der Altenpflege“. Zudem müsse die Tarifbindung in der Pflege dringend gestärkt werden, um flächendeckend höhere Löhne zu erzielen. Dass Pflegeeinrichtungen zukünftig zur Versorgung nur noch zugelassen werden, wenn sie entweder nach Tarif oder zumindest nach dem regionalen Durchschnitt zahlen, sei eine gute, aber nur die zweitbeste Lösung, so Zeiger. Denn die sogenannte Durchschnittsanwendung – also die Orientierung an den regional üblichen Löhnen – sei nicht geeignet, den Beschäftigten verlässliche und arbeitsvertraglich formulierte Lohnstrukturen zu garantieren.
Eigenanteile begrenzen – Steuerzuschüsse nötig
Jede Verbesserung in der Pflege wirft Fragen nach der Finanzierung auf, schließt Elke Heyduck von der Arbeitnehmerkammer Bremen an. „Es kann nicht sein, dass die Eigenanteile der Pflegebedürftigen durch die Decke
gehen, weil der Betrieb ausreichend Personal einstellt und die Pflegeversicherung diese Mehrkosten nicht abdeckt“, schildert Heyduck mögliche Folgen. Der Koalitionsvertrag sieht zunächst nur die Prüfung einer freiwilligen, paritätisch finanzierten Pflegevollversicherung vor. Mindestens dieser Prüfauftrag müsse nun umgesetzt werden. Mittelfristig gehörten jedoch sowohl die Pflege- als auch die Krankenversicherung auf stabilere Beine gestellt. „An einer Bürgerversicherung, die auch Beamte und Selbstständige einbezieht, geht auf Dauer kein Weg vorbei“, so Heyduck.
Da sich die Koalition im Bund nicht auf eine Bürgerversicherung einigen konnte, sei mindestens ein Ausgleich nötig zwischen Privater und Gesetzlicher Krankenversicherung – und eine Deckelung der Eigenanteile in der stationären Pflege. Angesichts der Löcher in den Kassen der gesetzlichen Krankenversicherungen seien zudem ausreichende Steuerzuschüsse nötig – und auch die in der Regel mit weniger Risiken belasteten privaten Versicherer müssten ausgleichend zur Kasse gebeten werden.
„Es ist möglich, den Teufelskreis des Pflegenotstands zu durchbrechen“
Die Hans-Böckler-Stiftung fördert das Forschungsvorhaben, da es evidenzbasierte Befunde für die Gestaltung eines umkämpften Politikfelds liefert: Die Bedeutung von Care-Arbeit nimmt zu, zugleich ist der Pflegenotstand bereits jetzt offenkundig und wird sich – auch als Nachwirkung der Corona-Pandemie – künftig noch weiter verschärfen. Das Forschungsprojekt lässt weitreichende Erkenntnisse erwarten, die für Politik, Verbände und Sozialpartner von Relevanz sind, weil es die subjektiven Sichtweisen und Motive derjenigen erfasst, die „ausgestiegen“ sind bzw. Arbeitszeit reduziert haben. Dadurch liefert es nicht nur Hinweise auf Probleme und Handlungsbedarfe, sondern hilft auch Wissensdefizite darüber abzubauen, was die für den Wiedereinstieg entscheidenden Bedingungen sind, etwa im Bereich der Arbeitsgestaltung. Diese lassen sich wiederum in konkrete Handlungsempfehlungen übersetzen.
Damit weist das Projekt weit über den bisherigen Horizont der Debatte um „attraktive Pflege“ hinaus: „Die Befunde der von uns geförderten Studie zeigen, dass es viele Fachkräfte gibt, die in die Pflege zurückkehren oder ihre Stunden aufstocken würden, wenn bessere Arbeitsbedingungen, insbesondere bessere Personalschlüssel, in Aussicht stehen“, sagt Dr. Claudia Bogedan, Geschäftsführerin der Hans-Böckler-Stiftung. "Es ist also möglich, den Teufelskreis, dass immer weniger Pflegekräfte zu noch weniger Pflegekräften führen, zu durchbrechen.“
Das Vorhaben knüpft dabei an erste Ergebnisse der von der Arbeitnehmerkammer Bremen regional durchgeführten Pilotstudie zum Pflegefachkräftepotenzial an und vergrößert deren Reichweite. Damit werden erstmals bundesweite Daten erhoben und ausgewertet. Es ist darüber hinaus eingebettet in und ergänzt eine Reihe weiterer Projekte aus dem Bereich Care-Arbeit/Gesundheitsnahe Dienstleistungen, die aktuell bei der Hans-Böckler-Stiftung gefördert werden, und die das Ziel haben, Optimierungspotenziale in der strategischen Gestaltung des Politikfelds Pflege zu identifizieren. Hierzu gehören etwa Untersuchungen zur Tariflandschaft, zu gesundheitsgerechten Arbeitsbedingungen oder zu Personalschlüsseln in der Intensivpflege.
Die Studie – ein kurzer Überblick
„Ich pflege wieder, wenn…“ – Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften“:
An der Befragung haben sich im Herbst 2021 bundesweit 12.684 Menschen beteiligt, die entweder in Teilzeit in der Pflege tätig sind oder den Pflegeberuf verlassen haben. Der Frauenanteil betrug 82 Prozent („ausgestiegene“ Pflegekräfte) bzw. 87 Prozent (Teilzeitpflegekräfte). Etwa 25 Prozent der Befragten waren „ausgestiegene“ Pflegekräfte und 75 Prozent Teilzeitpflegekräfte. Zwei Drittel arbeiteten aktuell oder zuletzt in der Krankenpflege, ein Drittel in der Langzeitpflege.
Die Befragung wurde in Kooperation von Arbeitnehmerkammer Bremen, Arbeitskammer des Saarlandes und Institut Arbeit und Technik durchgeführt und von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet. Die Hans-Böckler-Stiftung hat die Studie gefördert.
Die bundesweite Befragung fußt auf einem Pilotprojekt, bei dem im Land Bremen im Jahr 2020 rund 1.000 Pflegekräfte befragt wurden.
Zentrale Ergebnisse:
- Studie ergibt ein Potenzial von mindestens rund 300.000 zusätzlichen Vollzeit-Pflegekräften (= konservative Hochrechnung, optimistisch: rund 660.000) durch Rückkehr in den Pflegeberuf und Aufstockung von Stunden bei Teilzeitkräften
- „Ausgestiegene“ Pflegefachkräfte = Potenzial von 263.000 (konservativ) bis zu 583.000 (optimistisch) Vollzeitäquivalente
- Bereitschaft zur Aufstockung Teilzeitbeschäftigte = 39.000 (konservativ) bis zu 78.000 (optimistisch) Vollzeitäquivalente
- Knapp 50 Prozent der befragten Teilzeitpflegekräfte wären bereit, ihre wöchentliche Arbeitszeit zu erhöhen – um 10 Stunden im Mittel. Gut 60 Prozent der „ausgestiegenen“ Pflegekräfte wären bereit zu einer Rückkehr im wöchentlichen Umfang von im Mittel von 30 Stunden.
Die wichtigsten genannten Bedingungen für einen Wiedereinstieg / eine Stundenerhöhung:
- Mehr Zeit für eine qualitativ hochwertige Pflege durch eine bedarfsgerechte Personalbemessung.
- Eine angemessene Bezahlung, die insbesondere Fort- und Weiterbildungen anerkennt.
- Ein wertschätzender und respektvoller Umgang von Vorgesetzten, Kollegialität, sowie Augenhöhe gegenüber der Ärzteschaft.
- Verbindliche Dienstpläne
- Vereinfachte Dokumentation
Das Forschungsprojekt wird von einem breit besetzten Beirat begleitet. Mitglieder sind:
- Claus Bölicke, AWO, Bündnis für gute Pflege
- Matthias Gruß, ver.di
- Prof. Moritz Heß, Hochschule Niederrhein
- Prof. Gertrud Hundenborn, dip
- Bernhard Krautz, Michael Wittmann, Vereinigung der Pflegenden in Bayern
- Jana Luntz, Deutscher Pflegerat
- Prof. Albert Nienhaus, BGW
- Dr. Ulrike Rösler, BAuA
- Prof. Heinz Rothgang, Universität Bremen
- Dr. Dorothea Voss, Dr. Eike Windscheid, Christina Schildmann, Hans-Böckler-Stiftung
*Jennie Auffenberg, Denise Becka, Michaela Evans, Nico Kokott, Sergej Schleicher, Esther Braun: „Ich pflege wieder, wenn …“ – Potenzialanalyse zur Berufsrückkehr und Arbeitszeitaufstockung von Pflegefachkräften.
Kurzfassung der Studie zum Download
Langfassung der Studie zum Download
Und hier auch nochmal die komplette Presseerklärung in PDF-Format zum Herunterladen.
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